Demokratie ohne Grenzen: keine undemokratischen Sperrklauseln mehr in Europa

Einige Menschen sind systematisch von jeglicher politischen Vertretung ausgeschlossen. Eine ungerechte Situation, die es zu ändern gilt.

Von Lorena López de Lacalle, EFA Präsidentin und Manuela Ripa, MdEP

Alle europäischen Bürger*innen sind gleich. Das ist das Grundprinzip der europäischen Demokratie. Doch wenn es um ihre politische Interessensvertretung geht, erhalten einige Bürger*innen einen größeren Anteil als andere. Manche Menschen erhalten systematisch keine Sitze in den Parlamenten, was bedeutet, dass ihre Stimmen bei politischen Entscheidungen, die sie direkt betreffen, nie berücksichtigt werden.

Die Sperrklauseln sind ein großer Teil dieses Problems, da Millionen von Menschen in der EU kein Mitspracherecht in ihren Institutionen haben. Das führt dazu, dass die Parlamente nicht die Diversität der europäischen Gesellschaft widerspiegeln. Dies ist eine ungerechte Situation, die durch Abschaffung oder Senkung der (Prozent- )Hürden auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene behoben werden sollte. Zumindest ist es von entscheidender Bedeutung, dass keine neuen Hürden eingeführt werden, die die Politik weiter verzerren könnten.

Eine Sperrklausel ist der Mindestanteil an Stimmen, den Kandidat*innen oder eine politische Partei erreichen muss, um in einem Parlament vertreten zu sein. Wenn das Wahlgesetz keine offizielle Hürde vorsieht, ist die Zahl der Vertreter*innen nur durch die Gesamtzahl der verfügbaren Sitze im Parlament begrenzt. Dennoch werden in den meisten Wahlsystemen offizielle (Prozent-)Hürden festgelegt, um minoritäre Optionen auszuschließen und sie an der Vertretung zu hindern, selbst wenn sie bei einer normalen Verteilung einen Sitz gewinnen würden. Diese Sitze werden dann von den größeren Parteien belegt. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates empfiehlt, dass die (Prozent-)Hürden nicht höher als 3 % sein sollten. In der Praxis haben die meisten europäischen Länder deutlich höhere Hürden.

Dies ist nicht nur eine theoretische Beschwerde. Sperrklauseln haben schwerwiegende Folgen für unsere Demokratie, da ein hoher Prozentsatz der Wähler*innen nicht repräsentiert wird. Die Ergebnisse einiger kürzlich durchgeführter Wahlen in den EU-Mitgliedstaaten sollten jede*n beunruhigen, der an die repräsentative Demokratie glaubt. Bei den Parlamentswahlen 2020 in der Slowakei war mehr als ein Viertel der Wählerschaft nicht vertreten (28,39 %). Auch in Slowenien sind nach der letzten Wahl im Jahr 2022 aufgrund der Wahlhürde 24 % der Gesamtstimmen entfallen. Das Gleiche gilt für große Mitgliedstaaten mit vermeintlich stabilen Parteiensystemen: Fast 20 % der bei den Europawahlen 2019 in Frankreich abgegebenen Stimmen entfielen auf Parteien, die die 5 %-Hürde nicht erreichten, so dass ein Fünftel der Wählerschaft keinen Sitz erhielt.

Diese Zahlen mögen empörend erscheinen. Doch anstatt diese Sperrklausel für die Interessensvertretung zu beseitigen, schlagen die großen Parteien vor, neue zu errichten. In Deutschland wurde für die Europawahlen eine 2 %-Hürde vorgeschlagen. Wäre eine solche (Prozent-)Hürde bei den letzten Wahlen im Jahr 2019 eingeführt worden, hätte dies zur Folge gehabt, dass ganze 1,7 Millionen Stimmen zu 0 Sitzen geführt hätten. Das ist mehr als die gesamte Bevölkerung von Estland.

Der Verlust der Stimmen dieser Wähler*innen bedeutet nicht nur, dass ihnen das Recht auf Demokratie verweigert wird. Es schränkt auch die vertretenen politischen Ideen ein. Die Debatten werden dadurch undemokratischer. Die einzigen, die davon profitieren, sind die großen Parteien, die die Politik auf ein Spiel von zwei oder drei Machtgruppen reduzieren können. Dies führt natürlich zu einer konfrontativen, stark polarisierten Politik, wie sie in Mehrheitssystemen wie dem Vereinigten Königreich oder den USA üblich geworden ist. So sollte Europa nicht aussehen.

Die Europäische Union beruht auf dem Grundsatz der Demokratie und hat jede*n ihrer Bürger*innen gleichermaßen zu achten. Außerdem ist die EU ein Gemeinschaftsprojekt: Sie ist eigentlich „in Vielfalt geeint“. Es ist daher dringend erforderlich, dass die europäischen Politiker*innen in der Lage sind, zusammenzuarbeiten und auf alle Stimmen zu hören, die unsere vielfältigen Gesellschaften ausmachen. Das ist nur mit fairen Wahlsystemen möglich.

Bewusster Ausschluss von Minderheiten

Die Wahlhürden können Bürger*innen entrechten, die ihre Stimmen für eine kleinere Partei abgeben. Es gibt jedoch einige Gruppen, die besonders betroffen sind. Minderheiten, die naturgemäß einen kleineren Teil der Gesellschaft ihres Landes ausmachen, werden oft systematisch von der Teilnahme an der politischen Debatte ausgeschlossen. Der Einsatz von (Prozent-)Hürden, um sie von der Gesetzgebung fernzuhalten, ist eine in ganz Europa verbreitete Taktik. In Griechenland beispielsweise wird die Partei, die die türkische Minderheit (1,2 % der Bevölkerung) vertritt, durch eine landesweite 3 %-Hürde blockiert, obwohl sie in zwei Wahlkreisen den ersten Platz belegt.

Rumänien liefert uns ein weiteres kurioses Beispiel. Es gibt eine 5%-Hürde für Parteien. Diese bereits hohe (Prozent-)Hürde steigt auf 10 % für jede Koalition mit mehreren Parteien. Dieses System zwingt Minderheiten dazu, zwischen zwei Optionen zu wählen.

Einerseits können sie sich darauf verlassen, dass die Legislative ihnen einen einzigen Sitz garantiert, was sie zwingt, den Forderungen der Regierung nachzukommen. Andererseits können sie ganz normal zu den Wahlen antreten – allerdings nur als eine Partei, was die gesamte Gemeinschaft dazu zwingt, die Wahlpluralität aufzugeben und eine einzige Wahlliste zu unterstützen.

So haben die Ungarn, die mit mehr als einer Million Menschen 6 % der rumänischen Bevölkerung ausmachen, in der Praxis nur eine einzige Partei, die sie wählen können. Würden andere Parteien kandidieren, würde dies zu einer Spaltung der Wählerschaft führen und die gesamte Gemeinschaft würde verlieren. Das wiederum bedeutet, dass die Mehrheitsregierung die Minderheit unter Kontrolle halten kann.

Die Demokratie, die wir wollen

Eine Demokratie ohne Grenzen ist keine unrealistische Erwartung. In den Niederlanden ist der Anteil der nicht vertretenen Wähler*innen bemerkenswert niedrig: nur 1,99 % der Wähler*innen bei der Wahl 2021. Dies ist nur möglich, weil es im niederländischen Wahlsystem keine formelle Sperrklausel gibt. Da die Anzahl der Mandate nur durch die Anzahl der verfügbaren Sitze begrenzt ist, beträgt die effektive (Prozent-)Hürde nur 0,67 %. Dies führt zu einer gesunden Auswahl von Parteien, die zusammenarbeiten und Koalitionen aus verschiedenen Stimmen bilden – das berühmte Poldermodell, das eher auf Konsens als auf Konfrontation ausgerichtet ist und bei dem die Vielfalt der Stimmen in die politische Entscheidungsfindung einbezogen wird.

Die Freie Europäische Allianz, die europäische Partei für Selbstbestimmung, Demokratie und Gleichheit, unterstützt dieses Modell und plädiert dafür, es zu übernehmen. Die Zusammenarbeit vieler Parteien führt zu einer besseren, effektiveren Interessenvertretung – und, wie wir glauben, zu einer besseren Entscheidungsfindung und einer stärkeren Demokratie. Die Pluralität trägt nicht nur dazu bei, eine vielfältige Regierung zu schaffen, sondern auch dazu, dass Themen zur Sprache kommen, die sonst nicht angesprochen werden würden. Wir glauben an ein Europa, das alle Ansichten und Stimmen seiner Völker einschließt. Ein Europa, in dem niemand ausgegrenzt wird.

 

Alle Wähler*innen sind gleich. Lasst uns auch die Stimmen als gleichwertig anerkennen!